FOLGE 3 (1939-1945)
Während der sowjetischen Besatzung in Boryslaw
Jetzt befand sich Hilde Berger in Polen, in Freiheit. Sie wollte von Polen aus ins rettende Ausland reisen. Doch es kam alles anders. In Gdingen (Gdynia) versuchte sie zunächst, mithilfe des jüdischen Gemeindezentrums einen Pass zu bekommen. Als sie erfuhr, dass sie den Pass auch in Galizien bekommen könne, fuhr sie nach Boryslaw zu ihren Eltern und ihrer älteren Schwester, die sie seit mehr als zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Sie wohnte bei ihren Eltern in der Lukasiewicza-Straße 26 in Boryslaw. In Drohobycz beantragte sie eine Aufenthaltsgenehmigung und einen Pass, aber wartete wochenlang vergeblich.
Über Cousins kam sie in Kontakt mit der illegalen kommunistischen Gruppe in Boryslaw – sie wurde als „Berlinka“ [Berlinerin] vorgestellt, die in Deutschland im Gefängnis gewesen war. Bei Treffen wurde sie ausgefragt, wie es dazu kommen konnte, dass in Deutschland, dem Land mit der stärksten Arbeiterbewegung, die Nationalsozialisten an die Macht kommen konnten. Hilde kritisierte die Sozialdemokraten, aber auch die Politik der Kommunisten, die den größten Feind in den „Sozialfaschisten“ (gemeint waren damit die Sozialdemokraten) sah. Sie wurde deshalb als „Abweichlerin“ beschimpft. Kurze Zeit später wurde der deutsch-russische Nichtangriffspakt verkündet. Während die kommunistische Gruppe in Boryslaw Stalins angebliche Friedenspolitik verteidigte, kritisierte Hilde die russische Unterstützung für Hitlers Kriegsanstrengungen – mit dieser Kritik stand sie alleine da. Instinktiv verschwieg Hilde aber ihre Mitgliedschaft in der trotzkistischen Opposition – zu ihrem Glück.
Anfang September 1939 war es zu spät für eine Ausreise: deutsche Truppen besetzten Galizien, bevor sie sich einige Tage später zurückzogen und russische Truppen einmarschierten. Die örtlichen Kommunisten begrüßten die Rote Armee begeistert mit einer Demonstration, mit Liedern, Spruchbändern und Blumen. Die Begeisterung wich bei vielen aber schnell großer Ernüchterung: „Das Leben unter der russischen Besatzung war hart und trostlos. Es wurde eine strenge Arbeitsdisziplin eingeführt. Wenn ein Arbeiter dreimal zu spät kam, wurde er gefeuert. Auf Betriebsversammlungen forderten Arbeiter bessere Arbeitskleidung und humanere Arbeitsbedingungen, aber der, den sie zum Sprecher auserkoren hatten, wurde verhaftet und man sah ihn nie mehr wieder. Bald traute sich niemand mehr, solche elementaren Dinge anzusprechen, die in kapitalistischen Ländern zu den normalen Forderungen der Gewerkschaften gehörten und als legitime Streikgründe galten. Die Ingenieure aus Baku brachten ihre Familien mit. Die Russen zeigten sich erstaunt über den ‚hohen‘ Lebensstandard der polnischen Arbeiter. Wenn sie in deren Häuser kamen, glaubten sie, es seien ‚Bourgeois‘. Sogar einige der örtlichen Kommunisten waren bald von dem niedrigen Niveau der Russen enttäuscht.“ (Hilde Bergers Lebensgeschichte, in: Hesse, S. 38)
Um Essensmarken zu bekommen, musste wenigstens ein Mitglied einer Familie arbeiten. Für die Zuteilung der Arbeit war der Kommunist Rattner als Assistent des russischen Stadtkommandanten zuständig. Rattner hatte früher die kommunistische Gruppe in Boryslaw geleitet und betrachtete Hilde als Feindin. „Rattner verteilte die Arbeit auch an mich. Er … suchte für mich eine Arbeit als Mechanikergehilfin aus, was ich zu akzeptieren hatte. Um zu meiner Arbeitsstelle zu gelangen, musste ich fast fünf Kilometer einen Hügel hinaufgehen. Alle drei Wochen musste ich nachts arbeiten. Am Anfang hegten meine polnischen und ukrainischen Kameraden den Verdacht, ich sei eine russische Informantin, aber nach ein paar Monaten vertrauten sie mir und akzeptierten mich.“ (Lebensgeschichte, in: Hesse, S. 37f.)
Hilde Berger war mit Deutsch als Muttersprache aufgewachsen, obwohl ihre Eltern aus dem damals polnischen Galizien stammten. Ihre Mutter konnte zwar Polnisch, ihr Vater aber nur ein paar Brocken und es wurde kein Polnisch zuhause gesprochen. Hilde hatte auf der Schule und in Kursen Englisch und Französisch gelernt, so dass sie auch in diesen Sprachen korrespondieren konnte. Aber sie konnte weder Polnisch noch Russisch noch Ukrainisch. Während ihrer Arbeit lernte sie deshalb Ukrainisch mithilfe eines Lexikons und eines Schreibblocks und der Unterhaltung mit ihren Kollegen.
„Als im Juni 1941 die Deutschen Russland angriffen, sind alle, die Kommunisten waren oder im Verdacht standen, Kommunisten zu sein, mit den Russen abgehauen … Die Russen haben sich nicht verteidigt. Sie sind sehr schnell abgezogen. Es gab aber nicht genügend Züge und Waggons. Für die Russen und ihre Familien wohl, aber die Leute aus dem Osten [gemeint ist Ostpolen] mussten warten, bis neue kamen. Mein Freund bat mich, auch wegzugehen. Er sagte: ‚Du darfst nicht bei den Nazis bleiben. Die werden dich umbringen.‘ Alle gingen nach Russland, auch mein Freund. Ich sagte: ‚Ich gehe nicht nach Russland. Ich denke, für mich ist es sicherer bei den Deutschen.‘“ (Hilde Berger, Gespräch, in: Hesse, S. 129). Russland war für Hilde Berger ein riesiges Gefängnis, das für sie als Trotzkistin den sicheren Tod bedeutet hätte. Sie konnte sich damals nicht vorstellen, dass die Deutschen sechs Millionen Menschen umbringen würden, nur weil sie Juden waren.
Der Beginn der deutschen Besatzung
Bevor die Sowjetfunktionäre und Russen in großer Eile aus Boryslaw abzogen, hatten sie alle Inhaftierten im NKWD-Gefängnis ermordet – manche offensichtlich vorher noch gefoltert. Aufgehetzt durch das Gerücht „Dies ist das Werk des jüdischen Bolschewismus“ verübten Ukrainer ein zweitägiges Pogrom an den Juden in Boryslaw. 193 Juden wurden auf dem jüdischen Friedhof beerdigt; die Zahl der Opfer war sicher noch größer. Hilde Berger wurde von einer ihrer Cousinen gebeten, mit ihr nach ihrem verschwundenen Ehemann zu suchen – sie fanden ihn inmitten der Haufen verstümmelter Leichen.
Die Wehrmacht setzte kurz danach einen „Judenrat“ ein. Die Aufgaben des Judenrates waren die Ausführung deutscher Befehle, vor allem die Bereitstellung von Arbeitskräften, die Einziehung von Kontributionen, die Selbstverpflegung der jüdischen Bevölkerung und die Einrichtung eines jüdischen Ordnungsdienstes. Der Vorsitzende des Judenrats, der Rechtsanwalt Michael Herz, kam eines Tages zu Hilde Berger. Jemand hatte Hilde in einer anonymen Postkarte denunziert, dass sie in Deutschland wegen politischer Betätigung im Gefängnis gesessen hatte. Die Postkarte erreichte aber nicht den Leiter der Schutzpolizei, weil ein Polizist die Postkarte unterschlagen hatte, um Schweigegeld vom Judenrat zu erpressen. Der Judenrat zahlte ihm dann auch tatsächlich eine Belohnung.
Direkt nach der Besetzung Galiziens sollten alle Unternehmen keine Juden mehr dauerhaft beschäftigen, was sich bald als undurchführbar herausstellte. Die bereits in den anderen Distrikten des Generalgouvernements geltende Zwangsarbeit für Juden wurde auch im neuen Distrikt Galizien eingeführt. Offiziell hatten die neu eingerichteten deutschen Arbeitsämter das Monopol auf die Zuweisung der Arbeitskräfte – tatsächlich aber bedienten sich Wehrmacht, Gestapo, ukrainische Stadtverwaltungen und andere Stellen willkürlich und ohne Entlohnung der jüdischen Arbeitskräfte.
Krank, alt oder ohne Arbeit war man jederzeit vom Tode bedroht. Ende November sollte der Judenrat eine Liste der Kranken und Arbeitsunfähigen erstellen: nach dieser Liste wurden in der sogenannten „Invalidenaktion“ am 28.11.1941 rund 700 Juden verhaftet und am nächsten Tag in den Wäldern von Truskawiec und Tustanowice von Polizisten (Gestapo, Schutzpolizei, ukrainische Polizei) erschossen. Hilde Berger war deshalb froh, dass sie beim Judenrat Boryslaw eine Arbeit als Schreibkraft mit geringer Entlohnung bekam. Ihre Eltern waren mittellos und ohne Einkommen; so konnte sie wenigstens einen kleinen Beitrag zur Linderung der größten Not der Familie leisten. Vom Judenrat wurde sie gelegentlich an das Arbeitsamt „ausgeliehen“ und dadurch dort als fähige Stenotypistin mit Deutsch als Muttersprache bekannt. Am 24.2.1942 schrieb Junge, Direktor der Gruppenverwaltung Drohobycz der Beskiden Erdöl-Gesellschaft, an den Kreishauptmann Drohobycz, den SS-Sturmbannführer Eduard Jedamzik, ein Gesuch zur „Beschäftigung der Jüdin Hilde Berger“: „Der Ausbau unseres Unternehmens verlangt die Beschäftigung weiterer reichsdeutscher Arbeitskräfte, insbesondere auch Stenotypistinnen … Das hiesige Arbeitsamt ist nicht in der Lage, uns für die Übergangszeit geeignete Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. Es wurde uns lediglich die Jüdin Hilde Berger, geboren den 13.6.1914 in Berlin, als Stenotypistin empfohlen … Wir bitten Sie die Übersiedlungs-Genehmigung von Boryslaw nach Drohobycz zu erteilen“. Am 3.3.1942 verfügte der Leiter des Arbeitsamtes Drohobycz, Hellmut Bräunlich, dass Hilde Berger bei der Beskiden-Erdölgesellschaft in Drohobycz zu arbeiten habe. „Ich hatte den Betrieb darauf aufmerksam gemacht, daß ich nur noch Jüdinnen stellen könnte. Der Betrieb ist jedoch um die Arbeitskraft so sehr verlegen, daß er den Nachteil einer jüdischen Arbeitskraft in Kauf nehmen muß“. Hilde Berger musste für die Arbeit in der Verwaltung der Erdölgesellschaft aber von Boryslaw nach Drohobycz umziehen und sich schweren Herzens von ihren Eltern und ihrer Schwester trennen. Andererseits freute sie sich, in Drohobycz auf jüdische Intellektuelle zu treffen, mit denen man über Kunst und Literatur diskutieren konnte. Am tiefsten beeindruckte sie der Maler und Schriftsteller Bruno Schulz, der über seinen Lieblingsschriftsteller Franz Kafka, über Thomas Mann und andere deutsche Schriftsteller so kenntnisreich sprechen konnte. Das war ein kleiner Lichtblick in dieser trüben Zeit, in der sie gekennzeichnet mit dem Davidstern, entrechtet, gefährdet, unter primitivsten Bedingungen im jüdischen Wohnbezirk lebte.
Häufig musste sie in das Büro eines Deutschen gehen, um Akten zu ordnen oder ein Diktat aufzunehmen. Sie versuchte, dies möglichst in der Zeit zu tun, in der im Radio Nachrichten gesendet wurden. So erfuhr sie, was in der Welt passierte und wie die Kriegslage war.
Ihr drohte aber bald eine neue Gefahr: Direktor Junge hatte bei seinem Antrag auf ihre Beschäftigung versichert, dass „wir eine jüdische Arbeitskraft nur so lange beschäftigen, wie dies … notwendig ist und [bis] wir geeigneten Ersatz gefunden haben.“ (Schreiben vom 24.2.1942). Es gab Anzeichen dafür, dass Junge sie jetzt loswerden wollte.
Unter dem Schutz von Berthold Beitz
Am 6.8.1942 frühmorgens überfiel eine große Schar Polizisten Boryslaw. Geleitet wurden sie von einem SS-Kommando aus Lemberg unter SS-Obersturmführer Robert Gschwendtner – beteiligt waren die Sicherheitspolizei Drohobycz unter Hans Block, die Truppenpolizei Drohobycz (Reserve-Polizeibataillon 133) unter Ernst Lederer, die Schutzpolizei Boryslaw und Drohobycz und ukrainische Polizeieinheiten. Da sich herumgesprochen hatte, dass die Polizei am Vortag in Sambor, Turka und Umgebung rund vier- bis sechstausend Juden an einen unbekannten Ort deportiert hatte, waren viele Juden in Boryslaw vorher geflüchtet oder hatten sich versteckt. Daraufhin wurde die Aktion in Boryslaw zum Schein abgebrochen und die Aktion in Drohobycz durchgeführt. Das Ghetto Drohobycz („Lan“) wurde umstellt und rund 5.000 Juden zur Sammelstelle am Bahnhof getrieben. Inzwischen war ein Großteil der geflüchteten Juden aus Boryslaw zurückgekehrt, als gegen Abend die Aktion in Boryslaw fortgesetzt und rund 4.000 – 6.000 Juden festgenommen und in die Viehwaggons am Bahnhof getrieben wurden. Hilde Berger, die seit ein paar Monaten in Drohobycz wohnte, hatte große Angst um ihre Eltern und Schwester. Als Begleitung eines deutschen Angestellten der Karpathen-Öl AG erhielt sie eine Reiseerlaubnis nach Boryslaw. „Als ich am Haus meiner Eltern ankam, bestätigten sich meine Vorahnungen: Das Haus war leer, die Tür verriegelt und mit einem Zettel versehen, auf dem stand: >Reichsgut<. Ich ging zur Polizei und bat um Erlaubnis, das Haus betreten zu dürfen, aber der Polizeibeamte brüllte mich an: ‚Glaub nicht, weil du Deutsch sprichst, bist du besser als die anderen dreckigen Juden. Das nächste Mal bist du dran!‘“ (Hilde Bergers Geschichte, in: Hesse, S. 42).
Hilde Berger ging daraufhin zu Berthold Beitz, der ihr vom Namen her bekannt war. Berthold Beitz empfing sie mit den Worten, dass er von ihren Fähigkeiten als Sekretärin schon gehört habe und sie in seinem Büro gebrauchen könne. Sie würde dann unter seinem besonderen Schutz stehen und sicherer sein als in Drohobycz. Doch zuerst wollte sie wissen, wohin der Transport gegangen war. Beitz wusste es nicht, und auch der Judenrat wusste es damals noch nicht sicher. Beitz beschaffte ihr die Genehmigung, das Haus der Eltern betreten zu dürfen. „Mit großem Schmerz sah ich alles. Meine Mutter musste gerade dabei gewesen sein, das Sabbatmahl zu bereiten. Später hörte ich von Nachbarn, die sich versteckt hatten, dass mein Vater, als er mitbekam, was geschah, seinen Gebetsschal anlegte und zu Gott betete. Er hatte den Nachbarn gesagt, er würde sich nicht verstecken, weil er auf Gott vertraue und daran glaube, dass seine Familie sicher sei, da er immer gottesfürchtig und gesetzestreu gewesen sei. Leider half ihm Gott nicht. Ich durfte ein paar meiner persönlichen Sachen mitnehmen, dann wurde das Haus wieder versiegelt.“ (Hesse, S. 43). Erst Monate später erfuhr sie, dass die Transporte in das Vernichtungslager Belzec führten, wo alle Insassen des Zuges vergast worden waren.
Etwa zwanzig besonders wichtige Juden (z.B. Ärzte und Ingenieure) durften statt in der früheren Kaserne im sogenannten „Weißen Haus“, in einem abgetrennten Bereich auf dem Gelände des Zwangsarbeitslagers, wohnen – das „Weiße Haus“ bestand aber nicht aus einem, sondern drei Häusern, in denen die Insassen in eigenen Räumen schlafen und selbst kochen durften. Auch Hilde Berger und ihr Freund „Kuba“ wurden hier untergebracht, obwohl sie keine Spezialisten waren. Sie waren jetzt besser geschützt, aber trotzdem nicht sicher. Immer wieder führten Schutzpolizei und die SS Razzien im Lager durch. Die Insassen des Weißen Hauses teilten Beitz ihre Befürchtungen mit. Beitz vereinbarte deshalb mit dem Leiter der Schutzpolizei in Boryslaw, Wüpper, dass bei Aktionen ein Schutzpolizist beim Weißen Haus wachte, damit „kein Versehen“ passiere.
Hilde Berger arbeitete als zweite Sekretärin für Berthold Beitz, der nicht wollte, dass die jüdischen Angestellten in seinem Büro die Armbinde mit dem Davidstern trugen. SS-Obersturmführer Friedrich Hildebrand war „Judenreferent“ im Stab des SS- und Polizeiführers von Galizien, Fritz Katzmann. Anfang 1943 erschien Hildebrand zusammen mit einem weiteren SS-Offizier unangemeldet im Büro von Beitz, um den „Judeneinsatz“ zu kontrollieren. Hildebrand sah die attraktive Hilde Berger und fragte bei Beitz nach, ob er mit ihr einmal ausgehen könne. Als Beitz ihm sagte, dass Hilde Berger eine Jüdin sei, wurde Hildebrand wütend: er wusste nicht, dass Juden auch in der Verwaltung beschäftigt waren. Hildebrand verlangte die sofortige Entlassung aller Juden. Beitz erwiderte, dass diese Buchhalter und anderen Fachkräfte für ihn unersetzlich seien, vor allem Hilde Berger als Korrespondentin und Übersetzerin. Hildebrand gab nach, aber befahl Beitz, dass ab jetzt „alle Juden, die bei ihm arbeiten, das Kennzeichen tragen“. Das rettete Hilde Berger und den anderen jüdischen Angestellten in der Verwaltung das Leben. Für Beitz war dies ein erstes Zeichen, dass er Hildebrand in gewissem Umfang beeinflussen konnte. Hilde Berger aber trug nach dem Willen von Beitz bald keine Armbinde mehr, denn er wollte die Armbinde „in seinem Zimmer nicht sehen.“ (Zitate nach Sandkühler, S, 367). Offiziell wurde Hilde Berger in den Namenslisten der jüdischen Arbeiter und Angestellten der Karpathen-Öl in Boryslaw als Korrespondentin und Stenotypistin in der Abteilung Materialwirtschaft geführt (Liste vom 24.11.1943, S. 14, Nr. 641).
Im Sommer 1943 stellte Hilde Berger mit Schrecken fest, dass sie schwanger war. „Weil ich unter den gegebenen Umständen keinem Kind das Leben schenken wollte, entschloss ich mich zu einer Abtreibung. Wir hatten im Lager zwar einen Arzt, aber keinen Gynäkologen … Leider machte er keine gute Arbeit, das Blut war nicht zu stoppen. Kuba bekam Angst um mich, lief zu X [mit X ist Beitz gemeint] und bat ihn um Hilfe … Er sorgte dafür, dass einer seiner deutschen Angestellten mich in seinem eigenen Auto ins Krankenhaus nach Drohobytsch brachte. Dort wurde ich als Deutsche registriert, sofort als Notfall behandelt und dieses Mal wurde die Abtreibung fachmännisch und erfolgreich durchgeführt. Auf diese Weise hat X tatsächlich mein Leben gerettet, und das in einer Zeit, in der in Polen hunderttausende von Juden umgebracht wurden.“ (Hilde Bergers Lebensgeschichte, Hesse, S. 45)
Ab Sommer 1943 wurden immer mehr Zwangsarbeitslager für Juden liquidiert: auch die Arbeit der Karpathen-Öl AG bot keine wirkliche Sicherheit mehr. Viele Juden suchten deshalb nach einem Versteck: entweder in einem polnischen oder ukrainischen Haus, oder in einem Erdbunker im Wald. Für beides benötigte man Geld und Proviant. Oft wurden solche Verstecke entdeckt oder verraten. So war das Versteck von Dr. Goldman und anderen Mitgliedern des Judenrates aufgespürt worden – Beitz berichtete Hilde Berger, dass der Leiter der Schupo, Wüpper, damit prahlte, dass das Versteck entdeckt und alle an Ort und Stelle erschossen worden wären. Im Herbst 1943 lernte Hilde Berger im Büro einen Polen ungarischer Herkunft kennen, Meszarosz. Es hieß, er wäre ein führendes Mitglied der Armia Krajowa (der polnischen Untergrundarmee). Meszarosz spürte die Angst Hildes und bot ihr Hilfe an. Sie erzählte ihm von dem Plan, ein Versteck zu bauen, aber sie hätte kein Geld. Meszarosz sagte, er wisse, dass sie vielen Leuten unentgeltlich geholfen habe und jetzt selbst Hilfe verdient habe. Am nächsten Tag gab er ihr gegen Quittung 10.000 Zloty, die von der polnischen Exilregierung stammen würden. Falls sie mehr Geld brauche, solle sie sich wieder an ihn wenden. Hilde und ihr Freund Kuba konnten jetzt Material kaufen und mit dem Bau eines Verstecks beginnen. Im Winter wurde dies aber immer schwieriger und die Gefahr, entdeckt zu werden, stieg wegen der Spuren im Schnee. Die Schutzpolizei und die ukrainische Polizei suchten systematisch nach Verstecken und erschossen die Versteckten als „Partisanen“.
Beitz hatte ihr und anderen Juden in seinem Büro versprochen, sie rechtzeitig zu warnen, wenn die noch lebenden „Karpathen-Juden“ umgebracht werden sollten. Am 4.4.1944 wurde Beitz, als einziger Manager der Karpathen-Öl, zur Wehrmacht eingezogen – wahrscheinlich nach einer Denunziation durch einen anderen Deutschen. Es war Hilde Berger klar, dass sie jetzt untertauchen muss, aber ihr Versteck war noch nicht fertig.
Am 10. April wurden Boryslaw und Drohobycz das erste Mal bombardiert. Vier Tage später wurde das Lager Mrasznica morgens um 5 Uhr umstellt: unter Polizeibewachung wurden die Arbeiter zum Bahnhof getrieben und in Viehwaggons gepfercht. Es war zu spät; Flucht war unmöglich: zwei Juden, die auf dem Weg zum Bahnhof zu fliehen suchten, wurden sofort erschossen. Auch in Drohobycz wurde das Zwangsarbeitslager umstellt und geräumt: am 14.4.1944 traf der Transport mit 1.022 Juden aus den Lagern Boryslaw und Drohobycz im Konzentrationslager Plaszów bei Krakau ein. Auf Seite 24 der Zugangsliste findet man unter der Nummer 17 den Namen von Hilde Berger.
Auf Schindlers Liste
Einige Häftlinge hatten vorher gehört, dass die Arbeiter der Karpathen-Öl nach Jaslo gebracht werden sollten, um dort weiter für dieses Unternehmen zu arbeiten. Tatsächlich hatte die Karpathen-Öl für diesen Zweck auch Listen mit den Fachkräften aufgestellt, in der auch Hilde Berger genannt wurde. Auf diese Listen wurde aber beim plötzlichen Abtransport, von dem auch die Betriebsleiter in Boryslaw und Drohobycz überrascht wurden, keine Rücksicht genommen.
Groß war deshalb das Entsetzen, als die Zugfahrt nach einem Tag und einer Nacht ohne Essen statt in Jaslo in einem riesigen Lager endete, das von Elektrozäunen und Wachttürmen umgeben war, dem Konzentrationslager Plaszów. Geleitet wurde es vom berüchtigten SS-Untersturmführer Amon Göth, der als „Schlächter von Plaszow“ bezeichnet wurde. Im Sommer 1944 verzeichnete das Lager Plaszow mit etwa 25.000 die Höchstzahl internierter Häftlingen (20.000 Juden, 5.000 Polen).
Nach ihrer Ankunft mussten die jüdischen Gefangenen aus Boryslaw und Drohobycz einige Stunden auf einem großen Platz strammstehen. „Nach vielen Stunden erschien ein SS-Mann und brüllte, ob es jemanden unter uns gäbe, der Deutsch könne, Tippen und Stenografieren. Bevor ich etwas sagen konnte, wurde laut gerufen: ‚Hilde Berger, sie war die Sekretärin von Direktor [Beitz] in Boryslaw,‘ Der SS-Mann forderte mich auf, vorzutreten und fragte, ob das wahr sei. Dann sollte ich ihm folgen. Ich betrat ein Büro, wo ich einige jüdische Gefangene sah, die an Tischen saßen und arbeiteten. Ich wurde in einen Raum gebracht, wo ein SS-Mann in Uniform saß, Hauptscharführer Müller. Er war als Arbeitseinsatzführer für die Verteilung der Arbeit zuständig.“ (Hilde Bergers Lebensgeschichte, Hesse, S. 51)
Müller war ein ordinärer, ungebildeter Mann. Er blickte Hilde nicht an und sprach sie auch nie mit ihrem Namen an. Wenn er sie brauchte, brüllte er nur „Schreibkraft!“. Während des Diktats musste sie stehen. Hilde Berger verbesserte seine Berichte, weil sie voller stilistischer und grammatikalischer Fehler waren. Sie hatte Angst davor, für die Fehler verantwortlich gemacht zu werden. Als Müller das merkte, wurde er fuchsteufelswild. Hilde antwortete ihm ruhig, er wolle doch sicher nicht, dass fehlerhafte Berichte ins Hauptquartier geschickt würden, und er könne gerne ihre Korrekturen mithilfe eines Duden nachprüfen.
Müller musste regelmäßig Berichte über das Arbeitskräftepotenzial des Lagers nach Oranienburg schicken, dem Hauptquartier für alle Konzentrationslager. Als im Sommer ein großer Transport mit mehr als 2.000 ungarischen Juden in Plaszow eintraf, sortierte Müller die besonders arbeitsfähig Erscheinenden aus, die anderen wurden direkt erschossen. Im Anschluss diktierte Müller einen Bericht nach Oranienburg, in dem er mitteilte, dass 300 neue Arbeitskräfte ins Lager aufgenommen worden seien und 1.700 an Ort und Stelle liquidiert wurden.
Im Herbst 1944 musste Hilde Berger wie die anderen Stenotypistinnen viele Listen tippen – Listen mit Häftlingen, die zu Schindler gingen, und Listen mit denen, die für andere Orte vorgesehen waren. Das NSDAP-Mitglied Oskar Schindler hatte 1939 eine stillstehende Emaille-Fabrik bei Plaszow übernommen und später gekauft. Die Fabrik stellte 1942 auch Geschosshülsen her. Schindler erreichte mit gefälschten Papieren und Bestechungsgeldern, dass seine Fabrik als kriegswichtige Fabrik eingestuft wurde. Als die Evakuierung des Lagers Plaszow vorbereitet wurde, erhielt Schindler von der Zentralstelle in Oranienburg die Genehmigung, die Fabrik mit allen Maschinen und rund tausend jüdischen Zwangsarbeitern in Brünnlitz in der Tschechoslowakei weiter zu betreiben. Hilde Berger bemerkte in diesen Wochen, dass immer wieder SS-Leute versuchten, „ihre Juden“ auf die Schindler-Liste zu setzen. Diese SS-Leute machten das nicht aus humanitären Gründen, sondern weil sie wussten, dass der Krieg verloren war und sie sich für die Zeit danach ein Alibi als „Judenretter“ verschaffen wollten. Es war also klar, dass dieser Brünnlitz-Transport bessere Überlebenschancen bot. Hilde Berger setzte deshalb ihren Namen und die ihr bekannten Namen einiger anderer Juden aus Boryslaw auf die Schindler-Listen. Es gab mehrere Abschriften dieser Schindler-Liste: schließlich standen die Namen von 781 Männern und 297 Frauen darauf. In einer der alphabetischen Abschriften steht der Name von Hilde Berger unter Nummer 7 (Link Schindlers Liste, Auschwitz).
Der Transport Richtung Brünnlitz begann am 15.10.1944 und landete aber nicht in Brünnlitz: die Männer wurden in das KZ Groß-Rosen gebracht, während die Frauen nach Auschwitz-Birkenau transportiert wurden. Auschwitz-Birkenau war ein Transit- und Vernichtungslager. Als den Jüdinnen des Schindler-Transports ihre normale Kleidung abgenommen wurde, glaubten sie, dass jetzt ihre Reise zu Ende sei. Frauen, die ihnen ihre Kleidung abnahmen, sagten, dass alle Transporte mit einer Liste in die Gaskammern geschickt werden. Vier Wochen lang rechneten Hilde und die anderen Jüdinnen in Auschwitz täglich mit dem Gang in die Gaskammern, dann fuhr der Transport doch weiter nach Brünnlitz. Grund für die „Umleitung“ war eine Vorschrift der SS gewesen, dass Häftlinge bei einer Verlegung in ein anderes Lager erst in Quarantäne müssten, und in Groß-Rosen war kein Platz für die 300 Jüdinnen von Schindlers Liste gewesen. Oskar Schindler musste trotzdem mit weiteren Bestechungsgeldern nachhelfen, bis die Männer und Frauen schließlich nach Brünnlitz fahren durften.
„Als ich nach Brünnlitz kam, hatte ich wieder Glück und wurde ins Büro geschickt. Da gab es sehr wenig zu tun. Schindler hatte einen cleveren und raffinierten Plan: Das Hauptprodukt, das er herstellen wollte, waren Flugabwehrgeschosse, glaube ich … Aber in Wirklichkeit wollte er das gar nicht. Er konnte immer sagen: ‚Dieses Material fehlt mir, jenes Material fehlt mir. Ich kann einfach nicht arbeiten.‘. Manchmal kamen Inspektionen von der Wehrmacht, nicht von der SS. … Er schaffte es immer, sich rauszureden. Er war ein guter Redner und clever. Er hat sie auch bestochen.“ (Gespräch, in: Hesse, S. 143)
Anfangs war die Versorgung gut, weil Schindler zusätzliche Nahrungsmittel aus Polen mit Lastwagen herbeibringen ließ. Das war ab Anfang 1945 nicht mehr möglich und man musste mit einer Hungerration auskommen: täglich ein winziges Stück Brot und morgens eine dünne Rote-Rüben-Suppe. Nachts träumte Hilde Berger von einem ganzen Laib Brot, von dem sie sich Scheibe für Scheibe abschneiden konnte.
Laufend drohten die SS-Leute und ihr Kommandant, ein junger, fanatischer Antisemit, dass sie bei Kriegsende alle Juden im Lager erschießen würden. Die jüdischen Häftlinge wählten daraufhin ein Komitee, das mit Schindler sprechen sollte. Schindler versicherte, dass er alle Juden im Werk retten wolle und auch Kontakt mit dem tschechischen Widerstand in Brünnlitz habe, die Waffen liefern wollten, wenn es nötig sei. Tatsächlich kam es anders: Kurz vor dem Kriegsende verschwanden die SS-Leute mit ihrem Kommandanten. Hilde Berger vermutete, dass Schindler sie auch bestochen hatte. Am 9. Mai 1945, nach der deutschen Kapitulation, rief Schindler alle in der Fabrik zusammen und verkündete, dass alle jetzt frei seien. Er bat darum, Ordnung und Disziplin aufrechtzuerhalten, bis man Identitätspapiere erhalten habe, mit denen man reisen konnte. Ein Lagerkomitee sorgte für Ordnung und Hilde Berger und andere tippten Identitätspapiere auf Tschechisch, Englisch und Polnisch, die mit dem Stempel des Bürgermeisters von Brünnlitz bestätigt wurden. Manche weinten, weil sie nicht wussten, wohin sie gehen sollten. Hilde beschloss wie die meisten, nach Polen zu fahren: Vielleicht waren ja noch einige Verwandte am Leben?
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