Jugendjahre

Ernst Lederer wurde am 9. Februar 1913 als Sohn von Georg Lederer und seiner Ehefrau Nanette, geb. Sulzberger, in Mannheim geboren. Georg Lederer betrieb einen Bierverlag (Getränkegroßhandel) in dem 1910 von der Stadt Mannheim eingemeindeten Ort Feudenheim. Mannheim war eine Industrie- und Arbeiterstadt, der industriefreie Vorort Feudenheim dagegen ein beliebter Wohnort für wohlhabende Bürger, aber auch für Arbeiter. Es gab eine jüdische Gemeinde, mit einer 1813 erbauten Synagoge und einem jüdischen Friedhof. In Feudenheim wuchs Ernst Lederer auf, besuchte erst die vier Klassen der Volksschule und dann die Realschule. Danach ging er bis zum Abitur Ostern 1932 auf die Tulla-Oberrealschule in Mannheim. Sein weiterer Weg war unklar, da er keine besonderen Neigungen zu einem bestimmten Beruf oder Studium verspürte. Ein halbes Jahr arbeitete er im Bierdepot seines Vaters, danach begann er lustlos eine kaufmännische Lehre in der Verkaufsabteilung der Olny Deutsche Benzin- und Petroleum G.m.b.H. in Mannheim.

Nachdem am 30. Januar 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt worden war, vollzog sich in wenigen Monaten die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten: der Reichstag wurde aufgelöst, demokratische Parteien verboten und viele Abgeordnete ohne Prozesse in Konzentrationslager gesteckt und gefoltert. Dieser rasche, gewaltsame Weg in die Diktatur imponierte Ernst Lederer mächtig: er war zwar nicht in der Hitler-Jugend oder einer anderen NS-Organisation aktiv gewesen, sah aber jetzt die Chance für eine rasche Karriere bei den Nazis – ohne den mühsamen Weg einer Berufsausbildung, bei der er sich unterzuordnen hätte, und ohne Studium. Es war seine Entscheidung – niemand hatte ihn gezwungen.

Der Pakt mit dem Teufel

Am 1. Mai 1933 trat Ernst Lederer der NSDAP und der SS bei (SS-Mitgliednr. 100 545, SS-Sturm 4/II/32 in Mannheim). Ein halbes Jahr später bewarb er sich bei der SS (Politische Bereitschaften Württembergs) und erhielt bereits am 15. Dezember 1933 eine Festanstellung bei der SS. Die kaufmännische Ausbildung brach er ab. Zuerst kam er zur SS-Hundertschaft Ellwangen. Im Oktober 1934 wurde er dann zu einem Führeranwärterlehrgang kommandiert und im April 1935 zur SS-Führerschule in Bad Tölz. Er fiel nicht durch besondere Leistungen auf („Die Abschlussprüfung an der Führerschule bestand ich“, selbstgeschriebener Lebenslauf 1936), aber durch seine nach außen gezeigte besondere Radikalität. Nach einem achtwöchigen Kurs für Zugführer in Dachau wurde er zum SS-Untersturmführer befördert. Anschließend wurde er zum SS-Oberabschnitt Nord (Stettin) nach Schwerin versetzt. Im September 1936 reichte er beim Rasse- und Siedlungshauptamt der SS (RuSHA) sein Verlobungs- und Heiratsgesuch mit Susanne Groß ein. Die Braut war katholisch, Ernst Lederer bezeichnete sich als „deutschgläubig“, und die Trauung solle als „Eheweihe durch SS“ erfolgen. 1937 wurde er im Mai in das SD-Hauptamt (Abwehr) nach Berlin gerufen, wo er seinen Mentor und Fürsprecher, SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei, Heinz Jost traf. Ab Mai 1938 leitete Lederer unter ihm eine Unterabteilung (Referat III/214/3). Als Heinz Jost nach dem Überfall auf Polen im September Chef der Zivilverwaltung beim Armeeoberkommando 3 (C.d.Z. bei AOK 3) wurde, machte er Lederer zu seinem Adjudanten. Bei der Besatzungsherrschaft in Polen habe sich Lederer „besonders bewährt“ – man bescheinigte ihm die Eignung als Abteilungsleiter in Berlin. In dieser Zeit wurde das SD-Hauptamt Auswärtiges unter Heinz Jost als Abteilung VI in das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) überführt.

Exkurs: SS-Brigadeführer Heinz Jost

Heinrich (Heinz) Maria Karl Jost wurde am 9.7.1904 in Holzhausen als Sohn eines Apothekers geboren. Sein Weg zu den Nazis war nicht vorgezeichnet. Als 17-jähriger trat Jost dem Jungdeutschen Orden bei. Der Jungdeutsche Orden war der größte nationalliberale Verband in der Weimarer Republik – sein Name bezog sich auf den historischen „Deutschen Orden“ aus dem Mittelalter. Die Organisation war nationalistisch, aber nicht monarchistisch oder rechtsradikal. Ausdrücklich trat der Verband für eine Versöhnung mit Frankreich ein. Was den späteren Weg von Heinz Jost zu den Nazis aber ebnete, war die elitäre Gesinnung des Verbandes und der ausgeprägte Antisemitismus: ab 1922 konnten Juden nicht mehr Mitglied werden. 1923 bestand er das Abitur am Gymnasium in Bensheim und studierte anschließend Jura in Gießen und München (Abschluss als Referendar im Mai 1927).

Der NSDAP trat er im Februar 1928 bei (Mitgliedsnummer 75.946), der SA 1929. Damals war noch völlig ungewiss, ob die Nazis mal an die Macht kommen würden. Jost baute sich bald eine regionale Machtbasis und ein Netzwerk auf. Er praktizierte ab 1930 einerseits als selbständiger Rechtsanwalt und fungierte gleichzeitig als Ortsgruppenleiter der NSDAP in Biblis, Lorsch und Bensheim. Sein frühes Engagement zahlte sich für ihn direkt nach der Machtergreifung aus: im März 1933 wurde er Polizeipräsident in Worms und ab September Polizeidirektor in Gießen, wo ihn Werner Best für den Sicherheitsdienst (SD) abwarb. Ab Juli 1934 war er hauptamtlich tätig in Himmlers SD als Amtschef der Abteilung III (Abwehr). 1938 nahm er als Chef der Einsatzgruppe Dresden an der Besetzung des Sudetenlandes teil. Er beschaffte im August 1939 die polnischen Uniformen, die für den fingierten Angriff auf den Rundfunksender Gleiwitz benötigt wurden (der vorgetäuschte Angriff diente als Anlass für den Krieg gegen Polen). Im neugeschaffenen Reichssicherheitshauptamt (RSHA) führte Jost dann von 1939 bis Anfang 1942 das Amt VI (SD Ausland). Von März bis September 1942 war er Leiter der Einsatzgruppe A, zugleich Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD (BdS) im Reichskommissariat Ostland in Riga und damit maßgeblich verantwortlich für den Holocaust im Baltikum und Belarus. Wegen seiner Verbindung mit dem unterlegenen Heydrich-Rivalen Best nahm seine Karriere aber ein abruptes Ende: Im Herbst 1942 wurde er ins Ostministerium versetzt und ab April 1944 bei der Waffen-SS eingesetzt. Himmler befahl im Januar 1945 sein Ausscheiden aus der SS; mit 40 Jahren wurde Jost zum Frühpensionär.

Nach dem Krieg wurde er im Einsatzgruppenprozess am 10.4.1948 zu lebenslanger Haft verurteilt, die 1951 auf zehn Jahre Haft verkürzt wurde. Bereits wenige Monate später entließ man ihn aus der Kriegsverbrecheranstalt Landsberg. Danach war er als Jurist bei einer Immobilienfirma in Düsseldorf tätig und arbeitete, getarnt durch seine Tätigkeit bei der Immobilienfirma, spätestens seit 1961 für den Bundesnachrichtendienst (BND). Der Kriegsverbrecher Jost starb unbehelligt am 12.11.1964 in Bensheim.

Kompanieführer der kasernierten Gendarmerie in Drohobycz

Lederers Karriere ging weiter: die SS beförderte ihn zum Hauptsturmführer (11/1939) und im Juli 1940 wurde er zum Hauptmann der Polizei ernannt. Er hatte damals mehrere Monate einen „Polizei-Jagdzug“ im Generalgouvernement geleitet. Im Herbst 1941 wurde Lederer dann Kommandeur der 1. Kompanie des Reserve-Polizeibataillons 133 in Drohobycz. Weil solche Einheiten kaserniert wurden wie Soldaten, werden sie auch als Truppenpolizei bezeichnet.

Das Reserve-Polizeibataillon war motorisiert und hatte deshalb einen großen Aktionsradius. Anfangs war das Polizeibataillon 133 im Raum Nürnberg aufgestellt worden – rekrutiert zuerst aus einigen Berufspolizisten und aus jungen Freiwilligen, die sich meldeten, weil sie vom Wehrdienst freigestellt wurden und glaubten, ihren Dienst in der Nähe ihrer Heimatorte ableisten zu können. Dies erwies sich bald als Illusion: das Bataillon wurde im Generalgouvernement und ab Oktober 1941 im neuen Distrikt Galizien hinter der Front eingesetzt, zum Kampf gegen Widerstand und zum Massenmord an Juden und „Zigeunern“ (Sinti und Roma). Meist schon etwas ältere Reservisten wurden einberufen und füllten das Bataillon auf.

Das Bataillon bestand aus drei Kompanien – Bataillonschef war Oberstleutnant Gustav Englisch. Er saß mit seinem Stab und der 2. und 3. Kompanie in Stanislau (heute Ivano-Frankivsk). Die 1. Kompanie unter Lederer war kaserniert in Drohobycz, wo auch die SiPo (Sicherheitspolizei) eine Außenstelle („Grenzpolizeikommissariat“) besaß. Aber im Gegensatz zur SiPo Drohobycz, die für den Bezirk Drohobycz (den drei Kreisen Drohobycz, Sambor und Stryj) verantwortlich war, wurde die 1. Kompanie des Bataillons 133 als eine mobile Einheit regelmäßig zu Einsätzen auch außerhalb dieses Bezirks kommandiert – nach Stanislau und Kolomea, nach Lemberg, und vor allem auch in den Norden des Distrikts Galizien, nach Rawa-Ruska und Kamionka-Strumilowa (Sicherungsbezirk Nord). Umgekehrt wurde die 2. und 3. Kompanie des Bataillons aus Stanislau nicht nur im Süden und Osten des Distrikts, sondern auch im Bezirk Drohobycz (vor allem im Raum Stryj und Skole) eingesetzt – entsprechend der logistischen Planungen bei größeren Mordaktionen. Im September 1942 erfolgte eine Umorganisation der Polizei: das Bataillon 133 wurde umbenannt in Bataillon II des SS-Polizei-Regiments 24 – die 1. Kompanie / Btl. 133 wurde zur 5. Kompanie dieses Regiments (LASH Abt. 352.4, Bd. 1734, Bl. 1138f.). Da es sich um dieselbe Kompanie handelt, wird der Einfachheit halber die alte Bezeichnung beibehalten.

Im Gegensatz zu stationären Polizeieinheiten wie Sicherheitspolizei, Schutzpolizei und Gendarmerie, wo die Opfer längere Zeit mit diesen Polizeieinheiten konfrontiert waren und überlebende Augenzeugen einzelne Täter identifizieren konnten, war dies bei mobilen Einheiten wie dem Polizei-Bataillon 133 mit den ständig wechselnden Einsatzorten nur selten möglich: „Unbekannte Männer tauchten auf, führten ihren Mordauftrag aus und verschwanden wieder.“ (Browning, S. 14). Ohne den Einsatz dieser mobilen Mordkommandos aus Polizisten hätte der Holocaust in Galizien nicht so schnell und umfassend durchgeführt werden können: „Die Polizeibataillone waren wegen ihrer Personalstärke von enormer Bedeutung für die Besatzungsherrschaft. Im allgemeinen zu Bewachungsaufgaben herangezogen, wurden sie schon seit Oktober 1941 zu regelrechten Judenmord-Einheiten.“ (Pohl, S. 91).

Blutspuren der 1. Kompanie

In der folgenden Übersicht werden einige Mordaktionen aus der Zeit von Oktober 1941 bis Ende 1942 aufgeführt, an denen Lederer mit der 1. Kompanie des Polizeibataillons 133 (im Folgenden kurz: 1. Kp./133) sicher oder sehr wahrscheinlich beteiligt war. Wolfgang Curilla hat eine unvollständige Liste der Massenmorde zusammengestellt, an denen die Truppenpolizei mitwirkte; sicherlich war die 1. Kp./133 an einer Reihe weiterer Mordaktionen beteiligt, die Curilla nennt, an solchen, die er bei seiner Auflistung übersehen hat, sowie an weiteren, die mangels Untersuchungen und Zeugen nie bekannt wurden: da etwa 97 % der Juden im Distrikt Galizien ermordet wurden, gab es für viele Orte und Aktionen keine Überlebenden mehr, die hätten berichten können.

6.10.1941: Nach Absprache mit dem SSPF Galizien, Katzmann, zur Einübung auf den Massenmord an den galizischen Juden Exekution von 2.000 Juden aus Nadworna, unter Beteiligung des Pol.-Btl. 133 (Teilnahme der 1. Kompanie wahrscheinlich, aber nicht sicher belegt. Quellen u.a.: Sandkühler, S. 150; Browning, Entfesselung, S. 502; Curilla, S. 772)

12.10.1941: Beim Blutsonntag auf dem jüdischen Friedhof ins Stanislau ermordeten Sicherheitspolizei (SiPo), Schutzpolizei, ukrainische Hilfspolizei und Angehörige des Reserve-Pol.-Btl. 133 mindestens 10.000 Juden – das bis dahin größte Massaker in Galizien (Herbert, S. 66 nennt die 1. und 2. Kompanie des Pol.-Btl. 133. Das macht die Teilnahme auch an dem Massenmord in Nadworna wahrscheinlich. Browning, Entfesselung, S. 502, Curilla, S. 772)

22.11.1941: Vernichtung von ca. 250 Juden aus Drohobycz durch Truppenpolizei und SiPo im Wald von Bronica (Sandkühler, S. 318; Curilla, S. 773)

25.3.1942: Deportation von 1.000 bis 1.500 Juden aus Drohobycz in das Vernichtungslager Belzec (Sandkühler, S. 324; Kuwalek, S. 337; LASH Bl. 1142)

27.7.1942 Deportation von 5.000 Juden aus dem Gebiet von Rawa Ruska, unter Beteiligung der 1. Kp./Btl. 133 (Curilla, S. 773)

23.7.-1.8.1942: Vor und nach diesem Todestransport Tötung von 64 Juden und 5 jüdischen „Partisanenhelfern“ sowie Bettlern, „Zigeunern“, Landstreichern und anderen durch die 1. Kp./133 (Curilla, S. 773; Westermann S. 61). Von Sommer 1942 bis Frühjahr 1943 hatte die 1. Kp./133 die Aufgabe, das Gebiet von Rawa Ruska und Kamionka-Strumilowa zu „säubern“ und erschoss in dieser Zeit zahlreiche flüchtige Juden – mindestens viermal holten sie jeweils 20 oder mehr Juden aus dem Gefängnis von Rawa Ruska und erschossen sie im Wald (Pohl, S. 275; Curilla, S. 774)

4.-8.8.1942: Aktionen in Sambor (ca. 5.500 Juden), Boryslaw (ca. 5.750 Juden) und Drohobycz (geschätzt rund 4.000 Juden) – insgesamt etwa 15.000 Juden -, die nach Belzec deportiert wurden (Sandkühler, S. 334-341; Kuwalek, S. 343 f.; nach Sandkühler, S. 336, war die 1. Kompanie noch nicht an der Aktion in Sambor beteiligt, wohl aber an den folgenden Aktionen in Boryslaw und Drohobycz; LASH Bl. 1142 f.)

September 1942: Beteiligung an der Erschießung von etwa 2.000 Juden bei Kamionka-Strumilowa (Curilla, S. 776)

21.-24.10.1942: Deportation von fast 3.500 Juden aus Drohobycz, Sambor, Boryslaw und Stryj. Siehe dazu den „Aussiedlungsbericht“ von Ernst Lederer sowie viele weitere Quellen (u.a. Pohl, S. 240; Geldmacher, S. 109-111; Sandkühler, S. 356)

Herbst 1942 (bis Mitte Dezember): Die zunehmende Gewissheit, dass die Bahntransporte nicht in einem Arbeitslager, sondern im Vernichtungslager Belzec endeten, führte zu immer mehr Fluchtversuchen der verzweifelten Insassen. Die Viehwaggons waren verriegelt, zusätzlich mit Brettern vernagelt und die Lüftungsschlitze mit Stacheldraht gesichert. Trotzdem gelangen immer wieder Ausbruchversuche von Gefangenen: die meisten wurden direkt beim Abspringen von den Wachmannschaften erschossen. Auf die anderen machten Gendarmeriezüge und die 1. Kp./133 Jagd – diese allein erschoss wöchentlich bis zu 90 Geflüchtete (Pohl, S. 294)

28.10.1942: Deportation aus Kamionka-Strumilowa „Am 28.10.42 wurden in Kamionka-Strumilowa 1 023 Juden ausgesiedelt. Kam.-Strum. ist somit frei von Juden“ (Einsatzbericht 5./Pol.-Rgt. 24 vom 31.10.42, zit. nach Pohl, S. 240)

11.12.1942: Deportation von 2.500 Juden aus Rawa Ruska in das Vernichtungslager Belzec. „In der Berichtszeit wurde das Einsatzkdo. [Einsatzkommando] zur Judenumsiedlung in Rawa Ruska eingesetzt. 750 Juden, die sich nach der Umsiedlung versteckt hielten, wurden befehlsgemäß behandelt.“ (Bericht 12.12.1942 Sicherungsbezirk Nord, Einsatzkommando, 5./Pol.-Regt. 24 – d.h. die frühere 1. Kp./133 unter Lederer. zitiert nach Pohl, S. 242. „Befehlsgemäße Behandlung“ heißt Erschießung vor Ort. Vgl. auch Curilla S. 776)

Einheiten der Truppenpolizei wie die 1. Kompanie nahmen also an zahllosen Ghettoräumungen, Erschießungen und Deportationen teil. Häufig sperrten sie die Erschießungsorte ab oder bewachten Gefangenentransporte, während die Massentötungen vor allem von Exekutionskommandos der SiPo und ukrainischer Miliz vorgenommen wurden. An den großen, vom SSPF geplanten Einsätzen, vor allem aber an den zahllosen kleineren Aktionen konnten auch Freiwillige aus der Truppenpolizei morden. Ehrgeizige Truppenführer wie Lederer versuchten sich dadurch hervorzutun, dass besonders viele „ihrer Männer“ mitmachten.

Am Beispiel des Reserve-Polizeibataillons 101 unterschied Browning mehrere Gruppierungen: „ein Kern von Männern, die sich freiwillig zu den Exekutionskommandos und den ‚Judenjagden‘ meldeten und mit wachsender Begeisterung töteten; eine größere Gruppe von Polizisten, die sich auf Befehl an Erschießungen und Ghettoräumungen beteiligten, aber nicht aktiv nach Gelegenheiten zum Töten suchten …; und eine (nicht einmal 20 Prozent ausmachende) kleine Gruppe von Männern, die sich dem Tötungsauftrag verweigerten und entzogen“ (Browning, S. 220). Das gilt, wie wir aus weiteren Untersuchungen wissen, für fast alle Polizei-Einheiten – auch für die 1. Kp/133. Den „Nichtschützen“ passierte nichts, außer dass sie als Schwächlinge, Feiglinge und Drückeberger von fanatischen Offizieren wie Lederer verächtlich gemacht und gemobbt wurden.

Lederers Aussiedlungsbericht

Lederer hatte sich bei Untergebenen und Vorgesetzten unbeliebt gemacht – seine Position war nicht mehr unumstritten. Am 25.10.1942 versuchte er einen Befreiungsschlag, indem er ein geheimes Schreiben an den Kommandeur der Ordnungspolizei (KdO) im Distrikt Galizien, Walter von Soosten, sendete. In dem Schreiben berichtete er über die „Judenaussiedlung“ vom 21. bis 24.10.1942 im Bezirk Drohobycz. Nach seinen Angaben wurden dabei 1.179 Juden aus Drohobycz, 460 Juden aus Sambor, 1.020 Juden aus Boryslaw und 800 Juden aus Stryj „umgesiedelt“, d.h. in den Todeszug nach Belzec getrieben.

Dieses Schreiben ist eines der Dokumente der Nazi-Besatzung, das offen eine Vernichtungsaktion im Distrikt Galizien beschreibt, und wird deshalb häufig in Veröffentlichungen über den Holocaust in Galizien zitiert. Das Schreiben sagt darüber hinaus viel über den Verfasser selbst aus: über Ernst Lederer, Chef der 5. Kompanie des Polizeiregiments 24 (also der früheren 1. Kp./133). Er richtete das Schreiben an den Chef der Ordnungspolizei in Galizien, Soosten – dem Chef des II. Bataillons in Stanislau, seinem unmittelbaren Vorgesetzten, zur Kenntnis: es sollte also intern innerhalb der Ordnungspolizei bleiben. Lederer wollte Eindruck schinden bei seinem obersten Dienstherrn – das war der eigentliche Zweck. Lederer wäre zwar nicht befugt gewesen, das Schreiben an andere Einheiten wie Sicherheitspolizei und SSPF zu richten, aber diese tauchten in dem Bericht selbst seltsamerweise auch überhaupt nicht auf: wer war noch beteiligt und wer hatte das Kommando? Nur der später eingesetzte Zug des Wachbataillons Breslau wurde von Lederer erwähnt und so der Eindruck erweckt, als ob diese Aussiedlungsaktion ausschließlich von Truppenpolizei durchgeführt worden wäre. Lederer schlug dann „laufende örtliche Aktionen, bei denen die zurückkehrenden Juden festgenommen werden“ vor. In Stryj und Sambor sei das schon mit Erfolg praktiziert worden. Was Lederer hier als eigene Idee verkaufen will, war bereits vorher genau so gemacht worden.

Im August 1942 hatte der Führer der SS und Polizei (SSPF) im Distrikt Galizien, Fritz Katzmann, den SS-Obersturmführer Robert Gschwendtner mit der Leitung der Aussiedlung in den Kreisen Sambor, Stryj und Drohobycz beauftragt. „Das Grenzpolizeikommissariat Drohobycz [d.h. die SiPo und SD Drohobycz unter Hans Block], die mobile Polizei unter Lederer sowie die Gendarmerie waren durch Befehle ihrer Kommandeure informiert; die drei Kreishauptleute … auf kommende ‚Aussiedlungen‘ vorbereitet worden“ (Sandkühler, S. 334). Nach der Aussiedlung am 4.8.42 in Sambor und Umgebung (150 „arbeitsunfähige“ Juden erschossen, 600 als Zwangsarbeiter für das Lager Lemberg selektiert, rund 5.500 Juden in Waggons gesperrt und nach Belzec transportiert) war Gschwendtner am 6.8.1942 mit seiner „Aussiedlungskommission“ in Boryslaw eingetroffen und hatte am frühen Morgen den Ghettobezirk Wolanka umstellen lassen. Da sich die Kunde von der brutalen Aktion in Sambor schon verbreitet hatte und viele Boryslawer Juden in die Wälder und Verstecke geflüchtet waren, wurden aber nicht so viele Juden wie geplant gefangen. Deshalb wurde die Aktion zum Schein abgebrochen und die Mördertruppen fuhren weiter nach Drohobycz. Am späten Abend aber kehrten sie nach Boryslaw zurück und trieben Juden aus allen Stadtteilen zusammen. Da viele Juden inzwischen aus ihren Verstecken zurückgekommen waren, war die Aktion diesmal erfolgreicher: insgesamt wurden 5.750 Juden gefangen und nach Belzec transportiert. Lederer mit seiner 1. Kompanie war zwar dabei, aber nur als Hilfstruppe – die Entscheidungen hatte die Aussiedlungskommission unter Gschwendtner getroffen. Dieses Verfahren – eine Aktion zum Schein abzubrechen und dann später erneut zuzuschlagen – wurde in der Folgezeit mehrfach angewendet, konnte aber nie zum generellen Vorgehen bei den Aussiedlungen werden: die Polizeikräfte waren einfach zu gering, um mehrere Tage an einem Ort Aktionen durchzuführen und zugleich die mit der Reichsbahn abgesprochenen Termine für die Transporte in das Vernichtungslager einhalten zu können. Die großartige „Idee Lederers“ fand so keine Resonanz bei seinen Vorgesetzten.

Das Ende

Lederer besaß zu dieser Zeit keine Protektion mehr: sein Mentor Jost war aufs Abstellgleis geschoben worden und er selbst hatte sich mit seiner Überheblichkeit und Rücksichtslosigkeit unbeliebt gemacht. Im Frühjahr 1943 wurde er als Kompanieführer in Drohobycz abgelöst. Das ehemalige Bataillon 133 wurde nach Mittelrussland verlegt und durch das Res.-Pol. Batl. 307 (I. Btl./SS-Pol.Rgt. 23) unter Major Herbert Wieczorek ersetzt (Sandkühler, S. 82). Gegen Ledererer kam es zu mehreren Verfahren: schon 1942 vor dem SS- und Polizeigericht in Krakau, im Juni 1943 vor einem Gericht in Minsk und schließlich im Januar 1944 vor dem Hauptamt SS-Gericht in Berlin. Es wurden ihm Eigenmächtigkeit vorgeworfen („aufbrausendes Wesen“) – die genauen Vorwürfe sind nicht bekannt.

Ernst Lederer musste sich an der Front in Weißrussland „bewähren“. Im Juli 1944 wurde er bei Borrissow als vermisst gemeldet. Seine kurze Karriere als NS-Gewalttäter endete mit 31 Jahren.

Kurzbiographie Ernst Lederer

Aussiedlungsbericht Lederers

Quellen Lederer / Polizeiregiment 133:

Browning, Christopher: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen. Hamburg 2013. [Zitiert als Browning]
Browning, Christopher: Ordinary Men. Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution in Poland. Revised edition, 2017 (Kindle) [Zitiert als Browning-EN]
Browning, Christopher: Die Entfesselung der „Endlösung“, Berlin 2006 (besonders: Kapitel 8.2, Abschnitt „Ostgalizien“, S. 499-507) [Zitiert als Browning, Entfesselung]
Curilla, Wolfgang: Die deutsche Ordnungspolizei und der Holocaust, Paderborn 2006 (Besonders: Siebter Abschnitt, „45. Ostgalizien“, S. 770-789)
Geldmacher, Thomas: „Wir als Wiener waren ja bei der Bevölkerung beliebt“, Wien 2002
Herbert, Ulrich: Vernichtungspolitik. Neue Fragen und Antworten. In: Herbert (Hg.), Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939-1945, Frankfurt/Main 1998
Pohl, Dieter: Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien 1941-1944. München 1997
Sandkühler, Thomas: „Endlösung” in Galizien. Bonn 1996
Westermann, Edward B.: „Ordinary Men“ or „Ideological Soldiers“?. In: German Studies Review, 1998, S. 41-68

Wichtigste Archivmaterialien:

Arolsen Archives, Bad Arolsen: (File 9034800) Aussiedlungsbericht Drohobycz, 25.10.1942 (2 Seiten)
Bundesarchiv (BArch), Berlin (BDC): R 9361-II/115716; R 9361-III/539778
DALO, Lviv, Ukraine: R 1933-1-15, Bl. 2
LASH (Landesarchiv Schleswig-Holstein), Schleswig, Abt. 352.4 Lübeck, Bd. 1734

Quellen Heinz Jost:

Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Frankfurt 2012, S. 290
Wildt, Michael: Generation des Unbedingten. Hamburg 2003
Bundesarchiv, Berlin (BDC): R 9361-II/476400, R 9361-III/88310, R 9361-III/533804
https://de.wikipedia.org/wiki/Heinz_Jost
https://en.wikipedia.org/wiki/Heinz_Jost