Zeugnisse zum Tathergang

Am 15.10.1942 trat der deutsche Kesselmeister Karl Rindfuss (Rindfuß) seine Arbeit bei der „Raffinerie Süd“ der Karpathen-Öl AG in der galizischen Kreisstadt Drohobycz an. Die Raffinerie Süd umfasste die früher selbständigen Raffinerien „Nafta“ und „Galicja“. Sein Vorgesetzter war der stellvertretende Werksleiter der Raffinerie, R. Krause. In dieser Zeit wurde laufend Jagd auf Juden gemacht, die kein „R“-Abzeichen (R = Rüstung) hatten. Mit einem „R“-Armband und Ausweis kennzeichnete man Juden, die als kriegswichtige Arbeiter noch benötigt wurden.

1943 umstellten “Gestapo-Leute und ihre ukrainischen Wachmänner die Raffinerie ‚Nafta‘, die … als Magazin diente. Nunmehr wurden Juden ohne R-Abzeichen aussortiert und zu einer Gruppe von 40-50 Personen zusammengestellt. Krause soll die Selektion mit Hilfe eines als Arbeitsaufsehers eingesetzten Kesselmeisters selbst durchgeführt haben. Ergriffen wurde auch der ältere Schreiner Isidor Littmann aus dem ZAL [Zwangsarbeitslager] Boryslaw, der zufällig am Ort war, weil er der Baukolonne Zentralwerkstatt angehörte. Littmann hatte kein ‚R‘. Er versuchte mit ein paar anderen Juden zu flüchten; Krauses Aufseher stürmte hinterher und erschoss Littmann“ (Sandkühler, S. 383)

Bei dem Kesselmeister handelte es sich um Karl Rindfuss; der erschossene Jude hieß Izydor Litmann (andere Schreibweisen: Vorname Isidor, Nachname: Litman, Littman, Littmann, Litman-Haleman, wohnhaft in Boryslaw, Witowskigasse 26). Über diesen Vorfall berichteten drei Augenzeugen: Wilhelm Krell, Genia Stock und Karoline Schnepf.

Augenzeugin Karoline (Karola) Schnepf, geboren 1912 in Drohobycz, war von Ende 1941 bis April 1944 als Zwangsarbeiterin bei der Karpathen-Öl AG in Drohobycz – zuerst als Arbeiterin in den Raffinerien Galicja und Nafta, später in der Buchhaltung tätig. Sie schilderte den generellen Ablauf solcher Selektionen:

Von 1943 bis zu dem Zeitpunkt meines Abtransports nach Plaszów [13.04.1944] fanden in der Raffinerie Nafta mehrere Aktionen statt. Während dieser Aktionen wurden jeweils die zur Erschießung bestimmten Juden herausgesucht. Ich erinnere mich noch genau daran, wie diese Aktionen stattfanden. Alle Juden, die in der Raffinerie Nafta arbeiteten, standen auf dem Hof. Hier suchte Krause persönlich die Menschen aus, die erschossen werden sollten.“ Sie erinnerte sich auch an den Beschuldigten Rindfuss: „Er war mittleren Wuchses, kräftig, dunkel, etwas jünger als Krause. Während dieser Aktion (Selektion) bewachte Rindfuss die Juden, die durch Krause aussortiert worden waren.“ (Schnepf, S. 322f.)

Augenzeugin Genia Stock (Eugenia Sztok), geboren 1903 in Drohobycz, war mit Aufräumungsarbeiten in der Raffinerie Galicja beschäftigt und später in der Verwaltung tätig. Sie sagte aus: Wir wurden „auf unserem Weg zur Arbeit von Deutschen umzingelt … Während der … Selektion floh ein Arbeiter, der Schreiner Litmann (der kein „R“ hatte) durch die Raffinerie „Nafta“. Dieses sah auch der von mir schon erwähnte Deutsche Rindfuss. Er lief hinter Litmann her. Ich hörte einen Schuss, und, als ich in die Raffinerie „Galicja“ zurückkehrte, sah ich – während ich mit der Gruppe, die die Selektion überstanden hatte, unterwegs war – die Leiche des Litmann. Es ist ganz klar, dass Litmann von Rindfuss erschossen wurde. Ich habe gesehen, wie er hinter Litmann hergelaufen ist und in der Hand eine Pistole hielt, dann fiel der Schuss und konsequenterweise lag nachher die Leiche auf der Erde.“ (Genia Stock, S. 227f.)

Mit Absicht oder ungewollt?

Scheinbar ein völlig anderes Bild zeichnete ein anderer Zeitzeuge. Nicolas Bronicki, geb. am 14.10.1905 in Drohobycz, sagte am 26.10.1966 als Zeuge im Prozess gegen Friedrich Hildebrand aus. Im Anschluss wurde er von der Staatsanwaltschaft zu einigen weiteren Beschuldigten gehört. Im Gesprächsprotokoll steht: „Der Zeuge erinnert sich an den Beschuldigten Rindfuß als an einen Mann, der an sich von anständiger Gesinnung gewesen sei. Allerdings habe er einmal auf dem Gelände der Raffinerie Nafta einen Juden erschossen. Rindfuß sei danach zum Zeugen, der auch bei Gestapo-Leuten ein gewisses Ansehen genossen habe, gekommen, und habe ihm mit einiger Verzweiflung seine Tat berichtet, weil er offensichtlich Gewissensbisse gehabt habe (der Zeuge dürfte bei dem geschilderten Fall den Fall des Schreiners Litmann meinen).“ (Bronicki, S. 1992)

Wie verträgt sich diese Aussage mit den anderen Zeugenaussagen?

Nicolas Bronicki war kein Augenzeuge der Tat, aber bestätigt, dass Karl Rindfuss die Tat begangen hat. Daran gibt es nach dieser Aussage keinen Zweifel, nur sah er den Beschuldigten als einen im Grunde anständigen Menschen, der zugab, geschossen zu haben und seine Tat danach bereute. Nicolaus Bronicki schilderte dieses Gespräch sicher wahrheitsgemäß. Aber Bronicki kam nur gelegentlich mit Rindfuss in Kontakt, während die anderen Zeugen Rindfuss von der täglichen Arbeit in der Raffinerie kannten. Wir finden häufig dieses Verhaltensmuster, dass Angehörige der deutschen Besatzungsmacht sich zu einzelnen Juden zurückhaltend, freundlich oder sogar hilfsbereit zeigten, während sie sonst rücksichtslos Gewalt ausübten. Die Motive dafür können sehr unterschiedlich sein: für manche Gewalttäter diente es zur eigenen Gewissensberuhigung (ich persönlich habe ja nichts gegen Juden, habe sogar mit einzelnen Juden ein gutes Verhältnis, aber Befehl ist Befehl). Ein anderes Motiv, das nach Stalingrad und der sich abzeichnenden militärischen Niederlage immer häufiger auftrat, war die Vorsorge (Wenn ich nach der Niederlage zur Rechenschaft gezogen werde, kann ich einige Juden als Zeugen benennen, dass ich anders war und geholfen habe). Über die Motive von Karl Rindfuss kann man nur spekulieren.

Sehen wir uns deshalb die Tat selbst an: Wie konnte es dazu kommen – hatte Rindfuss keine Wahl?

  • Seine Aufgabe als Kesselmeister war eine verantwortungsvoll technische Aufgabe. „Aufseher der Arbeitsjuden“ war aber eine zusätzliche Aufgabe, die er freiwillig übernommen hatte.
  • Er nahm an Selektionen teil – andere Techniker lehnten das ab.
  • Rindfuss bewachte die selektierten Juden, obwohl ihre bevorstehende Erschießung allgemein bekannt war – Menschen, mit denen er vorher zusammengearbeitet hatte.
  • Als Wache bewaffnete er sich mit einer Pistole – einem Werkzeug, mit der er selbst andere Menschen umbringen konnte. Kein anderer Zivilangestellter in seiner Umgebung trug eine Waffe.
  • Versuchten Juden vor ihrer Ermordung zu fliehen, so hätte er sie nicht verfolgen müssen, was er aber tat: „Nach der Selektion, als ich mich wieder in meinem Zimmer befand, wo ich arbeitete, sah ich aus dem Fenster, wie Rindfuss auf dem Feld auf der anderen Seite der Chaussee herumlief und die Menschen suchte, die während der Selektion geflohen waren.“ (Schnepf, S. 323)
  • Auch im Falle des getöteten Schreiners Litmann handelte es sich nicht um eine spontane Reaktion, sondern es war eine Tat mit Absicht: er „lief hinter Litmann her“ (Stock, S. 227), bevor er den tödlichen Schuss abgab.

Nach der Tötung Litmanns wurde Rindfuss von deutschen Kollegen geschnitten: „Ich weiß, dass sogar die Deutschen, die als Techniker in ‚Galicja‘ arbeiteten und an der Aktion nicht teilgenommen hatten, später Rindfuss boykottierten, da er als nicht Gestapo-Angehöriger keine ’schmutzige Arbeit‘ hätte leisten sollen, welches Aufgabe der Gestapo sei.“ (Stock, S. 228). Am 16.11.1943 verließ Karl Rindfuss Drohobycz. Wurde er nach dem Krieg für seine Tat zur Rechenschaft gezogen?

Ein juristisches Desaster

Im deutschen Recht hängen die Verjährungsfristen von den Höchststrafen ab, die für bestimmte Delikte verhängt werden können: für lebenslängliche Strafen betrug die Verjährungsfrist 20 Jahre, beginnend ab 1949. Auch politisch motivierte Morde aus der NS-Zeit wären also 1969 verjährt. Für diese Straftaten verlängerte der Bundestag deshalb die Frist um 10 Jahre, also bis 1979. Zur gleichen Zeit arbeitete das Justizministerium eine Reform des „Ordnungswidrigkeitengesetzes“ aus, mit der Bagatelldelikte entkriminalisiert werden sollten. Am 24. Mai 1968 verabschiedete der Deutsche Bundestag dann einstimmig ein scheinbar harmloses Gesetz mit dem sperrigen Kürzel EGOWiG (Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz). In dem Einführungsgesetz platziert war eine Änderung des Strafgesetzbuchs (StGB): Fehlen besondere persönliche Eigenschaften, Verhältnisse oder Umstände (besondere persönliche Merkmale), welche die Strafbarkeit des Täters begründen, beim Teilnehmer, so ist dessen Strafe nach den Vorschriften über die Bestrafung des Versuchs zu mildern“ (§52 Abs.2 StGB).

Welche Folgen hatte diese kleine Änderung? Bis 1968 konnten alle Beteiligten an einer NS-Mordtat, auch Mordgehilfen, mit lebenslänglicher Haft bestraft werden. Dabei galten fast alle NS-Täter nicht als Mörder, sondern nur als Mordgehilfen – als Mörder wurden von der deutschen Justiz meist nur die Spitzen des NS-Regimes wie Hitler, Himmler, Göring und Frank betrachtet. Nach der Änderung des § 52 StGB galt: wenn dem Beschuldigten selbst nicht niedrige Beweggründe wie Mordlust und Rassenhass nachgewiesen werden konnte, durfte er nur noch mit maximal 15 Jahren Freiheitsentzug bestraft werden – damit waren diese Taten rückwirkend bereits 1960 verjährt. Ein Beschuldigter konnte sich leicht rausreden: er habe die Tat nicht gewollt, ihm taten die Opfer leid, er habe ein gutes Verhältnis zu manchen Juden gepflegt, usw. Das Gegenteil war ihm nur schwer nachzuweisen – mithin war seine Tat verjährt. Diese Konsequenz war den Bundestagsabgeordneten damals nicht bekannt – sonst wäre es nicht zu dem einstimmigen Beschluss gekommen. In der Zeit zwischen dem Bundestagsbeschluss und dem Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Oktober 1968 hätte das Gesetz noch geändert werden können. Bedenken von Juristen, dass dieser Paragraph zu einer „kalten Amnestie“ für NS-Gewaltverbrechen führen könne, wurden von dem Ministerialdirigenten im Justizministerium, Dr. Eduard Dreher, abgetan und so trat dieses Gesetz in Kraft. Tatsächlich urteilte der Bundesgerichtshof dann 1969, dass Beihilfe zu Morden zum 8. Mai 1960 verjährt sei und berief sich dabei auf den geänderten Paragraphen § 52 Abs. 2 des StGB.

Ausgedacht hatte sich diese „kalte Amnestie durch die Hintertür“ eben dieser leitende Beamte im Justizministerium, Dr. Eduard Dreher. In der NS-Zeit hatte er als Staatsanwalt am Sondergericht in Innsbruck besonders hohe Strafen beantragt – in mindestens zwölf Bagatellfällen sogar die Todesstrafe, weil es sich bei den Angeklagten um „Volksschädlinge“ handle. Dreher hatte sich somit durch die Gesetzesänderung selbst amnestiert.

Man muss sich das EGOWiG vorstellen wie eine Bombe, die in einem Kinderspiel­zeug versteckt ist. Diese juristische Bombe zerriss die schon laufenden Ermittlungs- und Strafverfahren gegen die NS-Täter und verhinderte weitere. Das Riesenverfahren gegen Hunderte von Beschuldigten aus dem Reichssicherheitshauptamt, das die Terrorzentrale des sogenannten Dritten Reiches gewesen war, brach in sich zusammen – die Arbeit von elf Staatsanwälten, 150.000 Aktenordner perdu; alles umsonst. Tausende Ermittlungsverfahren konnten nicht mehr fortgeführt werden.“ (Prantl, a.a.O.)

Die untersuchenden Staatsanwälte im Falle Rindfuss mussten damit rechnen, dass die Richter beim Angeklagten keine besonderen strafverschärfenden Merkmale sehen würden und die Tat damit verjährt wäre. Das Ermittlungsverfahren gegen Karl Rindfuss wurde nicht fortgeführt – es kam zu keiner Anklage und zu keinem Prozess, in dem die Tatvorwürfe, auch mit weiteren Zeugen und Dokumenten, hätten geklärt werden können.

Kurzbiographie Karl Rindfuss

Kurzbiographie Karoline Schnepf

Quellen:

Notizen zu Rindfuss, in: Landesarchiv Schleswig-Holstein LASH, Abt. 352.4 Lübeck, Bd. 1748, Bl. 24-29 und 39;
Aussage Wilhelm Krell, in: Bundesarchiv (BArch) Ludwigsburg B.162, Bd. 5832, Bl. 207, 207R, 208
Aussage Genia Stock, Haifa, 23.5.1962, in: BArch B.162, Bd. 5832, Bl. 225-228
Aussage Karoline Schnepf, Tel Aviv, 4.10.1962, in: BArch, B.162, Bd. 5832, Bl. 322-324;
Protokoll Nicolas Bronicki, Bremen, 26.10.1966, in: LASH Abt. 352.4, Bd. 1736, Bl. 1985a-1992
Zugangsliste KL Plaszow aus Drohobycz und Boryslaw, Liste Frauen, Nr. 162, in: Arolsen Archives, 1.1.19.1 / 489049
Isydor Litman-Haleman, Eintrag in: DALO Archiv (Lwiw), R 85-2-28, Liste jüdischer Arbeiter und Angestellten der Karpathen-Öl, 1942-1943, Blatt 25, Nr. 41 (auch: YVA M52.140, S. 50)
Manfred Görtemaker, Panne mit Kalkül, in: ZEIT Geschichte, 6/2020, S.94f.;
Heribert Prantl, Kalte Amnestie, in: Süddeutsche Zeitung, 6.5.2018
Thomas Sandkühler, „Endlösung in Galizien“, Bonn 1996, S. 383 und 538