[DE] Die Familie Alexander Goldwasser
Der 1883 in Krakau geborene Alexander Goldwasser hatte 1911 an der Universität Lemberg das Diplom als Bauingenieur erworben. Wie viele galizische Juden verehrte er den österreichischen Kaiser Franz Joseph, der den Juden bürgerliche Freiheiten gewährt hatte. Vor Beginn seines Studiums hatte Alexander ein freiwilliges Jahr beim Militär gedient. Im 1. Weltkrieg wurde er zwei Jahre an der italienischen Front und dann bei der Militär-Bauabteilung Krakau eingesetzt. Nach dem Krieg gründete Alexander mit der zehn Jahre jüngeren Regina Renia Mangel aus Zakopane eine Familie: am 15.01.1920 wurden sein Sohn Marcel geboren, am 27.03.1921 seine Tochter Dola. Ab 1919 baute sich Alexander Goldwasser in Drohobycz eine Existenz als selbständiger Bauingenieur auf. Er war ein angesehenes, sozial engagiertes Mitglied der jüdischen Gemeinde und der Bürgerschaft. Juden wurden im Städtischen Krankenhaus nicht behandelt; das aus Vorkriegszeiten existierende jüdische Krankenhaus aber befand sich in einem desolaten Zustand und stand kurz vor der Schließung. Alexander Goldwasser wurde in das Komitee gewählt, das in vier Jahren harter Arbeit erfolgreich den Wiederaufbau des Krankenhauses leitete.
„Es wurde eine Zentralheizung installiert, zwanzig Betten wurden hinzugefügt, und es wurde für eine angemessene Ausstattung gesorgt. Im Herbst 1938 wurde das Krankenhaus an die jüdische Gemeinde zurückgegeben. Es war von dem Ingenieur Goldwasser entworfen worden, der auch die Renovierung des Gebäudes von Anfang bis Ende leitete.“ (Rothenberg, Drohobycz between the Two World Wars)
Goldwassers Kinder waren gesund, fleißig und intelligent. Der Sohn Marcel studierte ab 1935 in Lemberg. Unter den damaligen Verhältnissen waren die Goldwassers eine glückliche Familie in gesicherten Verhältnissen, die im Zentrum der Stadt Drohobycz in der Markthallengasse 2 (uliczka Hali Targowej) wohnte. Ihre Situation änderte sich erst schlagartig mit der sowjetischen Besatzung 1939: als „Bourgeois“ drohte Alexander die Deportation nach Sibirien. Mit der deutschen Besatzung ab dem 1. Juli 1941 begann für die Familie aber ein noch viel größeres Unheil.
Nach dem deutschen Einmarsch
Direkt nach dem deutschen Einmarsch tobte in Drohobycz ein von der Wehrmacht geduldetes Pogrom in Drohobycz, das hauptsächlich von aufgehetzten Ukrainern als Rache an den „jüdischen Bolschewisten“ verübt wurde. Juden wurden vogelfrei, konnten gejagt, gequält und zu jeglichen Arbeiten gezwungen werden. Von Juli bis Ende Oktober 1941 musste Alexander Goldwasser als Baufachmann für den in Drohobycz stationierten Gendarmeriezug arbeiten. Inzwischen war die deutsche Militärverwaltung durch eine „zivile“ Besatzungsverwaltung abgelöst und beim Arbeitsamt eine Abteilung „Arbeitseinsatz für Juden“ eingerichtet worden. Am 22.11.1941 wurden etwa 250 kranke und invalide Juden vom Arbeitsamt einbestellt und im Wald von Bronica, ein paar Kilometer vor der Stadt, erschossen. Arbeitsfähig zu sein, eine Arbeitsstelle zu haben und von den Besatzern benötigte Qualifikationen nachweisen zu können wurde überlebenswichtig. Für Alexander als Ingenieur war das nicht schwer – ab November 1941 wurde ihm eine Arbeit zugewiesen bei den Staatlichen Sägewerken, der fünf oder sechs Sägewerke unterstanden. Nun drohte ihm aber ein anderes Problem: Dr. Nitsche, der Leiter der Abteilung Arbeit beim Gouverneur des Distrikts Galizien, hatte am 20.9.1941 bekanntgegeben, dass alle Juden vom 14. bis zum 60. Lebensjahr dem Arbeitszwang unterliegen. Alexander Goldwasser war aber fast sechzig und würde bald zu den überflüssigen „Alten“ gehören, denen die Vernichtung drohte. Deshalb änderte Alexander sein Geburtsdatum ab – vom 23.1.1883 in 23.11.1888.
Im März 1942 wurde er der Firma Keramische Werken zugeteilt, die auch unter den Namen Klinker-Zement und Dachowczarnia bekannt war. Die Juden, die eine Arbeitsstelle hatten, wurden im Herbst 1942 aus dem Ghetto herausgezogen und in Lagern kaserniert: Alexander Goldwasser, der bis dahin die Erlaubnis hatte, privat mit seiner Familie im Ghetto zu wohnen, musste in das Arbeitslager der Keramischen Werke übersiedeln, das aus Wehrmachtsbaracken für die zwischen 850 und 1.000 Arbeitskräfte bestand. Von Tochter Dola wissen wir, dass sie noch im Sommer 1942 als Studierende an einem Reha-Kurs im jüdischen Krankenhaus in Drohobycz teilnahm und in der vom deutschen Gebietslandwirt Eberhard Helmrich eingerichteten Gartenfarm Hyrawka arbeitete und schlief; der Sohn Marcel arbeitete als Tischler im Sägewerk I (Hyrawka) und übernachtete an seiner Arbeitsstätte. Einmal in der Woche durfte die Familie zum Vater ins Lager.
Ab Mai 1943, nach dem Warschauer Ghettoaufstand, drängte Himmler auf den baldigen Abschluss der Judenvernichtung. Der SS- und Polizeiführer Galiziens, Katzmann erteilte daraufhin Helmrich den Befehl, 50 seiner 90 Juden mit einem R-Ausweis an das Zwangsarbeitslager der Keramischen Werke abzugeben: zu ihnen gehörte Marcel Goldwasser, der damit zu seinem Vater in dasselbe Lager kam. (Das Lager Hyrawka wurde im Juni 1943 liquidiert – Helmrich war es vorher noch gelungen, weitere Juden der Gartenfarm bei der Raffinerie Süd und in einer Autowerkstatt der Karpathen-Öl unterzubringen)
Zwangsarbeitslager Keramische Werke und Karpathen-Öl
Die gemeinsame Zeit von Vater und Sohn bei den Keramischen Werken währte nur kurz – bis zum 25. August 1943, einem Mittwoch. Himmler hatte bereits am 22.7.1943 die Weisung gegeben, dass alle jüdischen Zwangsarbeiter auch aus Rüstungsbetrieben „herausgezogen“, d.h. vernichtet, werden sollten. Nur der Karpathen-Öl AG war es gelungen, eine Sondergenehmigung für ihre jüdischen Facharbeiter zu erwirken. Der Nachfolger Fritz Katzmanns als SS- und Polizeiführer Galizien, Theobald Thier, wollte sich nach Amtsantritt gleich als starker SS-Führer beweisen: ihn kümmerte es nicht, dass die Klinker-Zement bisher als kriegswichtig eingestuft worden war und dass sie zum SS-Wirtschaftsimperium gehörte. Im Morgengrauen wurde das Lager der Keramischen Werke von einem großen Polizeiaufgebot umstellt (Sicherheitspolizei, Schutzpolizei aus Drohobycz, aus Russen und Balten bestehende Lagerwache und ukrainische Polizei). Die etwa 900 Insassen wurden zu dem Gerichtsgebäude in Drohobycz eskortiert und dann in Zellen mit bis zu 80 Menschen gepresst. Abends erschien der SS-Untersturmführer Friedrich Hildebrand – seit dem 1. August 1943 Kommandant der Zwangsarbeitslager im Bezirk Drohobycz – und verlas die Namen von etwa 90 Personen, die für das Arbeitslager der Karpathen-Öl AG in Drohobycz vorgesehen waren. Hildebrand erkannte Alexander Goldwasser: er war ihm von Minkus, seinem Vorgänger als Lagerkommandant, vorgestellt worden. Als Hildebrand Alexander Goldwasser erblickte, sonderte er ihn aus, ebenso seinen Sohn Marcel, der einen Studentenausweis der Technischen Hochschule Lemberg vorweisen konnte. Die Ausgewählten wurden in das Zwangsarbeitslager Drohobycz der Karpathen-Öl AG gebracht: dort selektierte Hildebrand mit Hilfe des jüdischen Arbeitseinsatzleiters Weintraub zum „Ausgleich“ etwa vierzig „überflüssige“ Arbeitskräfte der Karpathen-Öl, meist Frauen. „Die Gruppe der ‚überflüssigen‘ jüdischen Arbeitskräfte wurde zum Lager-Tor geführt; dort übergab sie der Angeklagte [Hildebrand] den bereitstehenden SS-Angehörigen, die die Leute ins Gefängnis Drohobycz zu den dort untergebrachten jüdischen Menschen einlieferten. Am nächsten Morgen wurden diese unschuldigen jüdischen Menschen auf Lastkraftwagen verladen , in den Wald bei Bronica gefahren und dort sämtlich erschossen.“ (Urteil Schwurgericht Bremen, 6.5.1953, S. 68). Die Erschießungen im Bronica-Wald kommandierte der „Judenreferent“ der Gestapo Drohobycz, Gabriel. Unter den Ermordeten befanden sich auch Regina und Dola Goldwasser, die Frau und die Tochter Alexanders. Nur Alexander und sein Sohn Marcel waren noch am Leben.
Vater und Sohn versuchten, weiter zusammen zu bleiben. In den Listen der bei der Karpathen-Öl beschäftigten jüdischen Angestellten und Arbeiter, die die Betriebsleitung regelmäßig abliefern musste, werden Alexander Goldwasser als Diplom-Bauingenieur und Marcel Goldwasser als Technischer Zeichner in der Raffinerie Ost und Technischen Leitung geführt. Nach dem Abtransport aller jüdischen Zwangsarbeiter der Karpathen-Öl sendete die Leitung der Raffinerie in Drohobycz eine Auflistung der 47 besonders vermissten Ingenieure, Chemiker, Erfinder und Spezialisten an die Hauptverwaltung in Lemberg: Alexander Goldwasser wurde als Spezial-Ingenieur im Bau-Büro für den Entwurf der Neuanlage der galizischen Raffinerien genannt, und Marcel Goldwasser als Technischer Spezial-Zeichner für Entwürfe der Neu-Anlagen. Es hatte aber nichts genützt: am 13.4.1944 waren die Zwangsarbeitslager der Karpathen-Öl AG in Boryslaw und Drohobycz von SS und Polizeieinheiten umstellt und alle greifbaren Zwangsarbeiter in Bahnwaggons getrieben worden.
Von Plaszów nach Brünnlitz
Am 14.4. trafen die 1.022 jüdischen Zwangsarbeiter der Karpathen-Öl – 245 Frauen und 777 Männer – im Konzentrationslager Krakau-Plaszów ein. Der Lagerkommandant Hildebrand hatte ihnen den Arbeitseinsatz in westgalizischen Betrieben der Karpathen-Öl versprochen, und damit hatte auch die Unternehmensleitung bis kurz zuvor gerechnet. Entsprechend groß war das Entsetzen der „Karpathen-Juden“, als ihr Zug langsam in das Konzentrationslager einfuhr: ein riesiges Lager, umgeben von einem elektrisch geladenen doppelten Stacheldrahtzaun mit Wassergraben, 13 Wachttürmen mit MP-Schützen und Suchscheinwerfern, einer Wachmannschaft aus Trawniki und SS; lautes Hundegebell und aus Megaphonen lärmende Kommandos empfingen sie. Lagerleiter war der brutale SS-Untersturmführer Amon Göth, zu dessen morgendlichen Vergnügungen das Schießen auf arbeitende Häftlinge gehörte. Die meisten Häftlinge mussten für das SS-Unternehmen Deutsche Ausrüstungswerke (DAW) arbeiten. Ein Außenlager des Konzentrationslagers bestand in der Lipowastraße in Krakau: dort wurde für die Deutsche Emailwarenfabrik (DEF) von Oskar Schindler Blechgeschirr und später nur noch Munition produziert.
Als die Front näherrückte, wurden fieberhaft Pläne und Listen für die Räumung des Lagers erstellt, darunter waren auch die Listen für die Schindler-Fabrik in Brünnlitz. Eine der Schreibkräfte, die solche Listen tippte, war Hilde Berger, die auch mit dem Transport am 14. April nach Plaszów gekommen war. Als sie erkannte, dass die Schindler-Liste offensichtlich größere Überlebenschancen bot, schrieb sie sich und einige ihr bekannte Namen aus Boryslaw und Drohobycz auf die Schindler-Liste; weitere Namen nannte ihr Josef Feiner. Nur wenige Namen von Juden, die nicht bei Schindler arbeiteten konnte sie, ohne aufzufallen einfügen. Schließlich standen zwölf Namen von Juden des Transports aus Drohobycz und Boryslaw auf der Liste – ob sie alle durch Hilde Berger eingefügt wurden oder manche auch auf anderem Wege auf die Liste gelangten, ist nicht bekannt. Auch der Name Ignacy Klinghoffer (Igor Kling) aus Boryslaw, der mit einem anderen Transport gekommen war, stand schließlich auf der Liste.
Im Oktober 1944 wurden die männlichen „Schindler-Juden“ zur Quarantäne in das Konzentrationslager Groß-Rosen gebracht. Schindler musste weitere SS-Funktionäre bestechen, bis die Reise endlich zur Fabrik von Oskar Schindler ins tschechische Brünnlitz führte.
Nach der Befreiung: wohin?
Am 9.5.1945 wurden die Schindler-Juden befreit: keiner von ihnen war in dieser Zeit in Brünnlitz geschlagen oder ermordet worden, obwohl die SS-Wachmannschaft immer damit gedroht hatte. Während die anderen Geretteten in den nächsten Wochen fortfuhren, blieben Alexander und Marcel in Brünnlitz: Der 62jährige Alexander war traumatisiert und krank. Im Oktober kamen Vater und Sohn dann in die US-Zone nach Deutschland und durchliefen mehrere DP-Camps: in Cham, Schwandorf, Traunstein, Bad Wörishofen. Sie wollten nicht zurück nach Polen, wo sie alles verloren hatten, aber ihr erklärtes Ziel, die Ausreise nach Palästina, war ihnen lange nicht möglich. Während Marcel sein Studium wieder aufnahm, kümmerte sich Alexander um die berufliche Ausbildung junger jüdischer Überlebender, die auswandern wollten. Von 1946 bis 1948 leitete er als Direktor das Institut der WORLD ORT (Organisation – Reconstruction – Training) in München, einer Nichtregierungsorganisation, die bereits 1880 in Russland als Gesellschaft für handwerkliche und landwirtschaftliche Arbeit für Juden gegründet worden war. In den Nachkriegsjahren wurden vor allem in Bayern viele Auswanderungswillige durch das ORT ausgebildet. Mit 65 Jahren beendete Alexander diese Tätigkeit.
1950 erkannte ein ehemaliger jüdischer Zwangsarbeiter in Bremen auf offener Straße den früheren Lagerkommandanten Hildebrand und zeigte ihn bei der Polizei an: Hildebrand wurde verhaftet und ein Prozess gegen ihn vorbereitet. Am 19. Mai 1951 wurden Alexander und Marcel Goldwasser durch den Untersuchungsrichter Dr. Penning in München als Zeugen in diesem ersten Hildebrand-Prozess vernommen. Alexander Goldwasser schilderte, wie er vergeblich versuchte, über den Raffineriedirektor Höchsmann und über den Lagerkommandanten Hildebrand zu erreichen, dass seine Frau und seine Tochter verschont werden. Es wurde ihm zugesagt, aber nicht eingehalten. In dem Prozess gegen Hildebrand 1953 wurden diese Aussagen nicht berücksichtigt. Nach seiner Aussage brach Alexander Goldwasser zusammen – er verzichtete auf das neuerliche Vorlesen seiner Aussage. Beide Zeugen wurden auf ihren Wunsch hin vereidigt, da sie kurz vor ihrer Auswanderung standen. Ab 1952 lebten Vater und Sohn dann in Tel Aviv.
Die Liste der zwölf Überlebenden: Von Plaszow zu Schindler
Kurzbiographie Alexander Goldwasser
Wichtigste Quellen:
Arolsen Archives (AA), ITS Dokumente über Alexander und Marcel Goldwasser
Zugangsliste KL Plaszow 14.4.1944 von Drohobycz und Boryslaw, 1.1.19.1/2059000/ITS Digital Archive, Arolsen Archives
Schindlers Liste, https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Schindlerjuden#K
Zeugenaussagen Alexander und Marcel Goldwasser, in: Hildebrand-Prozess, 1.2.7.8,/9039400/ITS Digital Archive, Arolsen Archives
Urteil Schwurgericht Bremen gegen Friedrich Hildebrand, 6.5.1953, 1.2.7.8/9039500/ITS Digital Archive, Arolsen Archives
Andrea Übelhack, Briefe aus einem vergessenen Koffer. http://www.judentum.net/kultur/schindler.htm
Pohl, Dieter, „Schindler, Oskar“ in: Neue Deutsche Biographie 22 (2005), S. 791-792 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118755102.html#ndbcontent
Shmuel Rothenberg, Drohobycz between the Two World Wars; https://www.jewishgen.org/yizkor/drohobycz/dro095.html
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