Erinnerungen an eine unkindliche Kindheit: die deutsche Okkupation Polens im 2. Weltkrieg aus der Perspektive eines jüdischen Kindes
Rede gehalten am 15.02.2007 im Kino-Saal Apollo, Görlitz, auf einer Veranstaltung des Fördervereins Görlitzer Synagoge e.V.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Das ist wie ein Wunder. Ich kann es kaum glauben: Ich, der ich immer und ewig vom Todesurteil der Deutschen bedroht war, ich sitze hier und jetzt in Eurer Gesellschaft und werde gerade Euch erzählen, wie die Deutschen vor 66 Jahren das Volk, dem ich entstamme, das jüdische Volk, vernichtet haben. Die Deutschen – das kultivierteste Volk im damaligen Europa, verblendet von der Ideologie Hitlers. Und es ist ihnen leider voll und ganz gelungen. Das haben ganz normale Menschen getan, solche wie wir oder Ihr oder die hier Anwesenden, ganz gewöhnliche Väter, Brüder, Ehemänner, Onkel, Neffen, Schwiegersöhne usw. In Uniform wurden sie zu verrohten Mördern von unschuldigen und wehrlosen Kindern und Alten, Frauen und Männern.
Ich habe leider das Recht, über diese schreckliche Zeit so zu denken und zu sprechen. Diese Erlebnisse haben in meinem Leben einen tiefen Riss verursacht. Für Deutsche war die „Vertreibung” schlimm. Uns traf die …Ausrottung, die SHOAH …der Holocaust von 6 Millionen Juden!
Ich, der ich nach den Münchner Gesetzen und der Endlösung der Judenfrage ein „Untermensch” war, habe mich trotzdem in eine Deutsche verliebt und sie geheiratet. Ich habe trotz meiner unmenschlichen Erfahrungen während der deutschen Besatzung immer an den Sieg des Guten über das Böse geglaubt.
Es fällt mir schwer, vor Deutschen über diese schrecklichen Ereignisse zu sprechen, denn vielleicht haben sogar Ihre nahen Verwandten Völkermord begangen.
Man kann ohne Weiteres sagen, dass ganz Deutschland bei diesem „Höllentanz” dabei war.
Der Krieg brach am 1. September 1939 aus. Im Juli war ich gerade 8 Jahre alt geworden und hatte die 1. Klasse der Allgemeinen Schule abge-schlossen. Auf den Krieg hatten wir uns wochenlang vorbereitet. Wir haben alle Zimmer und die übrigen Räume im ganzen Haus1 gestrichen und Lebens-mittel eingekauft: zwei ganze Sack Mehl und einen Sack Grütze. Was aber das Wichtigste war – wir bauten uns im Garten einen Luftschutzbunker. Das war ein 3,5 m tiefer und 10 m langer L-förmiger Graben, der mit Holzbalken und mit einer ein Meter dicken Erdschicht bedeckt war.
Im Radio hieß es, die Deutschen bekämen nicht einmal einen Knopf von uns. Wir hörten im Radio Soldatenlieder und wie man im Eigenbau eine Gasmaske anfertigt. Und schon waren wir auf den Krieg vorbereitet!
Die Deutschen marschierten Ende September von der Slowakei kommend in unsere Stadt ein. Das war ein Katzensprung, niemand hatte sie von dieser Seite erwartet, d.h. aus Südost.
Die deutschen Truppen marschierten nur einmal durch unsere Straße an unserem Haus vorbei. Die Soldaten trugen ordentliche Uniformen und gut gepflegte Pferdegespanne zogen große Kanonen. Bei uns wurden zwei Offiziere und eine Ordonnanz einquartiert. Sie waren höflich und sie wussten wohl, dass wir Juden waren. Sie waren den ganzen Tag über weg und kamen abends mit einem kleinen Militärfahrzeug zurück. Immer mit gerollten Landkarten oder Zeichnun-gen. Die Ordonnanz bewachte die Zimmer der Offiziere in der ersten Etage, wusch oft ihr Auto, das trotz guten Wetters immer voller Schlamm war. Vater meinte, dass sie wohl die Erdölquellen, die Raffinerien und weitere Einrichtungen erfassen.
Nach etwa 10 Tagen reisten sie abends still und leise ab.
Früh morgens standen dann schon sowjetische Aufklärungspanzer in unserer Straße. Die sowjetischen Soldaten saßen auf ihren gepanzer-ten Fahrzeugen und lächelten freundlich die Passanten und die Kinder an.
Sie trugen komische Uniformen. Die Bekleidung schien aus Bettdecken genäht, die Gürtel und die Schuhe mit hohem Schaft zu unserer Verwunde-rung aus Segeltuch und nicht aus Leder. An den spitzen Mützen trugen sie zwei Sterne überein-ander. Der größere war aus Stoff und der andere aus Metall. Beide rot. Auf dem aus Metall waren Hammer und Sichel dargestellt.
Von da an begleiteten uns die verschieden großen Sterne immer und überall: auf der Straße, in der Schule, im Kino und bei jeder anderen Gelegenheit. Es kamen Porträts von Stalin, Lenin, Marx und Engels dazu. Vater hatte als Bauingenieur einen Baubetrieb und ein Sägewerk. Nach dem Verständnis der sowjetischen Behörden gehörte unsere Familie zur Bourgeoisie. Zu dieser Kategorie gehörten der Besitzer des Juwelierge-schäfts, des Bekleidungs-, des Schuhgeschäfts usw. Unser ganzer Besitz wurde verstaatlicht und uns drohte die Verbannung, wie man damals sagte, nach Sibirien. Das Leben war sehr schwer. Es gab nichts, weder Geschäfte noch Waren. Die Geschäfte, genannt „Konsum“, wurden in den Villen und Häusern der ehemaligen Eigentümer eingerichtet, die eingesperrt oder tief ins Landesinnere des sowjetischen Staates verbannt wurden. Es war schwer, Grundnahrungsmittel zu bekommen. Man stand stundenlang nach Brot an. Das Kennzeichen der Sowjetmacht waren Propaganda und Kantinenessen, in der Schule, am Arbeitsplatz, überall roch es nach Garküche. Die Nahrungsmittel stammten hauptsächlich aus den Gemüsegärten am Haus.
Der Ärger mit der Sowjetmacht dauerte bis Juni 1941.
1 Das Elternhaus stand in der ulica Cerkiewna 51 (heute: Potik) in Boryslaw